Silvestergeschichte von Paul Bliß
in: „Lienzer Zeitung” vom 02.01.1915,
in: „Preßburger Zeitung” vom 31.12.1922,
in: „Dzimtenes Zinas” vom 30.12.1916 (hier: Klusa laime [= Das stille Glück]).
Wie alljährlich gab es im Kasino zu Bergheim einen Silvesterball, und wie immer war auch diesmal alles, was in Bergheim und Umgegend zur Gesellschaft zählte, dazu eingeladen. So auch der Assessor Hellwig und Frau.
Hellwig arbeitete am Landgericht zu Glücksburg, das eine halbe Stunde von Bergheim entfernt lg.
Als die Einladung bei dem Ehepaar ankam, klatschte Frau Melanie in die Hände: „Gottlob, doch endlich mal eine Abwechslung in diesem Kleinstadtleben!”
Der Assessor dagegen zog die Stirn in Falten, denn diese Einladung kam ihm gar nicht gelegen.
Aber die junge Frau rief: „Paul, was heißt denn das? Willst du vielleicht absagen?”
Er nahm sich zusammen und entgegnete dann ruhig: „Weshalb die Leute dieses Fest immer nur auf den Silvester verlegen! Das ist doch ein Tag, den man gern im stillen Glücke daheim verbringt!”
„Das finde ich durchaus nicht,” sagte sie, „und wir, die hier so einsam leben, wir sollten uns freuen, zu einem solchen Feste geladen zu sein.”
„Aber Kind, du tust ja gerade, als ob wir hier ewig leben würden; ich kann doch nicht dafür, daß ich in dieses Nest versetzt worden bin; hoffentlich werde ich bald befördert, dann kommen wir in eine größere Stadt.”
„So, damit willst du mich vertrösten? Du denkst nur an dich, du sitzest bei deinen Büchern, an mich denkst du nicht.”
„Aber Kindchen, je mehr ich arbeite, desto eher kommen wir doch vorwärts!”
„Und ob ich inzwischen alt und häßlich werde und meine Jugend hier vertrauere, das ist dir natürlich ganz egal!” Sie war dem Weinen nahe.
Lächelnd trat er an sie heran. „Was willst du nun eigentlich, Melanie?” fragte er milde.
„Daß wir diesen Silvesterball mitmachen!”
„Liegt dir denn wirklich so viel daran?”
„Gewiß! Ich will auch mal meinen Willen haben!”
Da zuckte er die Schultern und sagte ,leichthin: „Nun gut, du sollst deinen Willen haben. Ich werde zusagen.” Dann ging er ernst und sinnend hinaus.
Als sie ihn so still abgehen sah, war es ihr leid, und am liebsten hätte sie Abbitte getan, plötzlich aber bäumte sich ihr Stolz auf, und eigensinnig blieb sie sitzen.
Er aber saß bei seinen Büchern ud machte ein sorgenvolles Gesicht . . . . er dachte daran, wie anders diese Ehe geworden war, als er es sich vorgestellt hatte. Melanie war das einzige Kind reicher Leute. Er liebte sie, und anfangs schien es, als habe auch sie ihn gern. Als sie aber in dies kleine Städtchen versetzt wurden, wo sie auf einander angewiesen waren, da stellte es sich heraus, daß sie ein Weltkind war, das nur im Trubel der Gesellschaft sich wohl fühlte, und anstatt sich nun ihm anzuschließen, entfremdete sie sich ihm und zürnte ihm sogar, daß er sie in dies Nest gebracht hatte.
Silvester kam heran. Frau Melanie hatte große Vorbereitungen gemacht; sie war gewohnt, als Königin des Balles gefeiert zu werden.
Aber kurz vor Sivester schlug das Wetter um. Es schneite die ganze Nacht und den ganzen Tag, dazu kam Wind, der den Schnee stellenweise fußhoch zusammentrieb, und so geschah es, daß die Kleinbahn, die Glücksburg mit Bergheim verband, einschneite und der Verkehr vollkommen stockte.
Was nun?
Die kleine Frau bekam Weinkrämpfe. Der Assessor lief von einem Wagenbesitzer zum andern, Alles umsonst. Entweder war das Fuhrwerk versagt, oder man wollte bei dem Unwetter seine Pferde lieber im Stalle behalten. Frau Melanie wurde immer ungnädiger und ließ ihren unschuldigen Gatten alles entgelten.
„Aber Kind, ich gebe dir mein Wort,” versicherte er, „ich habe alles versucht, aber es half nichts, bei dem Wetter will sich niemand hinauswagen.”
Plötzlich jauchzte sie auf: „Ich hab' einen Ausweg, wir sind gerettet!”
Er sah sie mißtrauisch an, denn er kannte ihre Extravaganzen.
„Wir werden auf Schlittschuhen hinüberlaufen!” rief sie belustigt aus.
„Das ist doch nicht dein Ernst, Melanie?”
„Aber bitterer Ernst sogar! Wir beide laufen auf Schlittschuhen hinüber, — das dauert keine halbe Stunde, — und der Johann kommt mit dem Handschlitten hinter uns her und bringt unsere Garderobe nach!”
Jetzt war er ganz ernst. „Melanie,&rdquo, sagte er ruhig, aber bestimmt, „ich kann nicht glauben, daß du wirklich im Ernst geprochen hast!” —
„Aber ja doch! Ist denn die Idee vielleicht nicht gut?”
„Sie ist nicht nur nicht gut, sondern einfach unausführbar.”
„Und weshalb?”
„Weil das Eis bei dem milden Wetter nicht mehr hält,” entgegnete er ruhig.
„O, hast du nicht mal so viel Mut?” Das sollte komisch klingen, aber es klang eher gereizt.
„Um einer solchen Laune willen setzt man sein Leben nicht aufs Spiel,” sagte er erregt.
„Aber Paul, ich habe mich so sehr auf dieses Fest gefreut,” bat sie nun klrinlaut und sah ihn so flehend an, daß sein Zorn gleich wieder schwand.
„Es geht nicht, Melanie!”
„Versuchen wir es doch wenigstens! Geht es nicht, nun dann will ich mich zufrieden geben.”
Er sprach noch einmal dagegen, sie aber, mit Schmeichelworten, fand stets neue Gründe, bis er shließlich wieder nachgab.
So geschah es, daß sie um drei Uhr nachmittags aufbrachen. Er und sie auf Schlittschuhen und Johann mit dem Garderobenschlitten hinterher. — Anfangs ging alles gut. Es schneite nicht mehr, und sie hatten freie Bahn. Als sie den halben Weg bereits zurückgelegt hatten, rief die kleine Frau belustigt:
„Nun habe ich nicht wieder recht gehabt, du böser Mann?”
„Hoffentlich kommen wir glücklich hinüber,” sagte er.
Schweigend kiefen sie weiter.
„Zürnst du mir, Paul?”
„Weshalb?” fragte er ein wenig kühl.
„Du bist böse, Paul! Ich fühle es! aber du darfst mir nicht zürnen, ich habe das nicht so gemeint!” Flehend schaute sie ihn an und drückte seine Hand.
„Was hattest du für Gründe, mich mutlos zu schelten?” fragte er nur.
„Es ist mir ja nur so entfahren, vergiß es doch!”
Eben wollte er antworten, als es einen Knall gab, dann ein Knistern und Knacken. Entsetzt lief sie in seine Arme und klammerte sich laut schreiend an ihn.
Auch er war erschrocken, aber nahm alle Geistesgegenwart zusammen und riß sie im schnellen Bogen mit sich fort, so daß sie über die gefährliche Stelle fortkamen.
Im selben Augenblick gab es einen neuen Krach, dann ertönte ein erschütternder Schrei, und als beide sich umsahen, erblickten sie mit Entsetzen, daß Johann eingebrochen war. Der Schlitten mit dem Garderoenkorb war bereits versunken, der Diener aber hatte sich auf den Bauch geworfen und versuchte so, der Todesgefahr zu entrinnen.
Frau Melanie zitterte am ganzen Körper; sie war nicht imstande, ein Wort zu sagen.
Der Assessor übersah sofort die Gefahr. Mit aller Energie beruhigte er die kleine Frau und rief dem Diener zu, daß er ganz stilliegen solle. Alsdann lief er mit Melanie ganz behutsam ans Ufer des Flusses, der hier nicht sehr breit war; dort auf dem Lande brachte er die Frau in Sicherheit, und dann machte er sich daran, den Diener aus der Gefahr zu befreien. Er legte sich der Länge nach auf das Eis und schob sich vor, um die Hand des Dieners zu erreichen.
„Um Gottes willen, Paul,” jammerte Melanie, die zitternd am Ufer stand und alles händeringend mit ansah.
Aber es war bei allem Unglück noch ein Glück, denn das Eis hatte nur die eine dünne Stelle dort, und so rettete der Herr seinen Diener und brachte ihn trocken ans Land, der Schlitten mit dem so kostbaren Garderobenkorb war allerdings für immer verloren gegangen.
Als die beiden Männer wieder glücklich auf dem festen Lande standen, sah Paul seiner bebenden kleinen Frau heiter ins Gesicht und meinte: „Ein ganz netter Zwischenfall, nicht wahr?”
Sie aber sank in seine Arme und rief schluchzend: „O Paul, ich habe dir ja so viel, so unendlich viel abzubitten!”
&bdquoNicht doch,” sagte er schelmisch, „laß uns jetzt lieber beraten, wie wir nun nach Bergheim kommen.”
Da nahm sie beschämt seinen Arm und sagte ganz leise: „Laß uns nur schnell, bevor es dunkel wird, nach Hause kommen.&rdquo:
Er lächelte still.
Und dann gingen sie am Ufer entlang, den Weg zurück, den sie eben gekommen waren. Johann voran und das Ehepaar schweigend hinterher. Nach zehn Minuten hatte sie nasse Füße und begann zu stöhnen. Und da nahm er sie kurz entschlossen auf den Arm und trug sie so weiter.
Sie legte ihren Arm um seinen Hals, und als er sie ansah, drückte sie sich ganz fest an ihn und flüsterte leise: „Verzeih mir, verzeih mir nur, daß ich so kindisch war!”
Statt jeder Antwort zog er ihr Gesicht herunter und küßte sie mit inniger Liebe.
Langsam kamen sie weiter, wenn auch nur mit großer Mühe.
Dann fragte sie: „Hattest du denn gar keine Angst?”
Er verneinte mit Lächeln: „Ich dachte ja an dich!”
„Du Lieber! Du Guter!”
Nach einer Stunde, gerade bei Einbruch der Dunkelheit, kamen sie daheim an.
„Nun, was meinst du,” fragte er, „sollen wir nicht noch schnell ein paar Freunde einladen?”
Da sagte sie ganz leise: „Laß uns allein bleiben!”
Und so blieben sie allein und saßen beim Punsch, aßen Pfannkuchen und freuten sich zum erstenmal, daß sie so weltfern vom Trubel der Gesellschaft nur sich und ihrem Glücke leben konnten.
Niemand sprach mehr vom Ball. Nur einmal sagte er: „Es ist doch schade, daß unsere Garderobe ein so trauriges Ende nehmen mußte.”
Aber da rief sie heiter: „Ja, die schöne Garderobe ist nun wohl für immer verloren. Aber dafür haben wir doch auch etwas gefunden, was viel mehr wert ist.”
Glückselig nickte er und schloß sie in die Arme.
Aber als dann die Uhr zwölf schlug und draußen die Glocken das neue Jahr einläuteten, da sahen sie beide, Arm in Arm, hinaus in die Nacht und flehten, daß dies stille Glück nun nie mehr von ihnen weichen möge — — —
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